Der Einstieg von The Unfinished Swan bleibt unvergessen: Man erwacht im völligem Weiß und hat bis auf einen kleinem Dot zum Zielen nicht einen einzigen Orientierungspunkt. Es gibt keine Tutorial-Anweisung, kein Voiceover. Nur ein paar Naturgeräusche und diesen Punkt in der Mitte. Zunächst hatte ich angenommen, das Spiel würde noch laden. Nach ein paar Sekunden kam es mir aber seltsam vor und ich überprüfte, ob die Konsole eingefroren sei. Eine Tasteneingabe offenbarte mir, dass ich Laufen konnte. Intuitiv drückte ich den rechten Trigger, und siehe da: Ich schoss einen schwarzen Tropfen Farbe in die Welt hinaus und färbte damit eine weiße Wand ein. Plötzlich hatte ich einen Anhaltspunkt, mein Gehirn begann den Raum dreidimensional zu erfassen. Ich schleuderte etwas mehr Farbe in die Welt und konnte so einen Weg ausmachen, ein Flussufer, etwas Schilf, einen Baumstamm – und einen Frosch. Als ich ihn einfärbte, schaute er nur verdutzt zurück, quarkte mich einmal an und verschwand in einem unsichtbarem See. Ich wollte mich gerade von ihm abwenden, als in der Ferne ein riesiges schwarzes Ungetüm, irgendetwas zwischen Fisch und Krake, den Frosch verschlang. In der Erstarrung wurde mir plötzlich bewusst: Deine Farbe kann alles offenlegen; Wege und Hindernisse, Freunde und Feinde. Die kommenden Minuten sollten sich zweifellos zu den eindrücklichsten Spielerfahrungen ergänzen, die ich je in meinem Leben gemacht habe. Als abstrakter Kartograph ging ich auf Entdeckerreise. ich gewinne an Form ich gewinne an Farbe Das Spiel versetzt mich in die Rolle des kleinen Jungen Monroe. Seine Mutter ist gestorben und als Andenken an sie hat er ein Gemälde mit ins Waisenhaus genommen, dass einen Schwan zeigt. Sie war eine begeisterte Malerin, aber sie vollendete nie eines ihrer Bilder, weswegen auch der Schwan nicht von ihr fertig gemalt wurde. Eines Nachts aber verschwindet der Vogel. Monroe folgt ihm mitsamt silbernen Pinsel durch eine nicht näher benannte Tür und er findet sich in einer Fantasiewelt wieder; ein märchenhaftes Königreich mit einem Schloss, einem Irrgarten, einer Stadt, Flugschiffen, Heißluft-Ballons und einem düsteren Wald. Die Rahmenhandlung erinnert an Bücher von Rudyard Kipling oder Roald Dahl. Oder eben an Alice in Wunderland. Die Handlung erscheint zu Beginn beinahe obligatorisch für das Märchensetting, entwickelt sich aber zunehmend zu einer schönen Parabel auf den Generationswechsel von Eltern zu Kindern. Erst durch den Einfluss Ihrer Nachkommen gewinnen die Lebenswerke von Menschen an Farbe, ohne jedoch Zweifel daran zu lassen, dass die Erziehung von ihren Kindern selbst ihr größtes Schaffen bleibt. The Unfinished Swan verweilt nicht bei einer, sondern zeigt im Laufe seiner vier Kapitel vier unterschiedliche Darstellungsformen und Abwandlungen in der Spielmechanik, die alle dem Oberthema des kreativen Schaffens gewidmet sind. Während Anfangs- und Schlusskapitel dramaturgisch und gameplaytechnisch nichts weiter als ein triumphaler Erfolg sind, bleiben die beiden mittleren Kapitel trotz einiger zweifellos schöner Ideen seltsam monoton. Verantwortlich dafür sind hauptsächlich zwei Gründe: Zu einem „gewinnt“ die weiße Welt an Schatten hinzu und macht die Suche nach Orientierung schlagartig weitaus weniger interessant. Zum anderen ist das Königreich trotz schön animierter Ranken – die durch Monroe selbst zum leben erweckt werden – seltsam tot. Die Welt atmet nicht, wirkt wenig lebendig. Die Starre und Leere übt den wenig schmeichelhaften Charme eines frühen Prototyps aus. Dem Spiel kommt allerdings zugute, dass das letzte Kapitel auch für den schwachen Mittelteil den nötigen Kontext und somit Relevanz zuschreibt. Ebenso sind Musik und Sounddesign überaus gelungen: Während die Melodien dem Geschehen eine melancholische Leichtfüßigkeit verleihen, hilft der Sound vor allem zu Beginn Gegenstände voneinander zu differenzieren. Je nachdem wo die Farbkleckse auftreffen verändert sich auch das Geräusch des Aufschlags. Holz klingt so beispielsweise anders als ein Stein und sogar Entfernungen lassen sich akustisch sehr gut einordnen. ich verliere an Fantasie In nur zwei Stunden ist das Spiel vorbei, womit die dramaturgischen und ästhetischen Schwächen gut durch den grandiosen Start und dem tiefsinnigen Finale ausgeglichen werden können. Es ist wirklich schade, dass die Sequenz mit der völlig weißen, prinzipiell unsichtbaren Welt nicht weiter durchgehalten wurde. The Unfinished Swan bleibt aber trotzdem ein lohnenswertes Erlebnis. Und ein befriedigendes. Denn zum Schluss verweilt in Monroe und uns das Gefühl etwas vollendet zu haben. The Unfinished SwanDer Titel dieses Spiels hätte nicht treffender gewählt sein können: Unfinished Swan hat viele wundervolle Ideen, die aber nicht immer zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenkommen und eher den Eindruck einer Prototypen-Sammlung hinterlassen. Emotional kann es trotzdem an einigen wichtigen Stellen packen. 6Gesamtwertung