Nur wenige Videospiele bleiben nach der Rezeption tatsächlich dauerhaft im Gedächtnis des Spielers haften. Primäre Gründe dafür dürften die starken Ähnlichkeiten untereinander und die generelle Kurzlebigkeit des Gezeigten sein. Besonders stark davon betroffen sind Titel, die sich an Erwartungshaltungen der hauptsächlichen Spielerschaft halten und im Regelfall nur das bieten, wofür Videospiele nach Auffassung profitorientierter Produzenten geschaffen sind: Reine Unterhaltung. Nur selten erblicken Werke das Licht, die ausgehend von diesem Medium ebenfalls versuchen eine Metaebene zu erreichen; die versuchen mehr zu sein als ein reines Spiel und das Publikum auch auf einer künstlerischen Ebene affektieren möchten. Eines der berühmtesten Beispiele ist der vertikale Rail-Shooter Rez, welcher immer wieder genannt wird, wenn die Symbiose aus Kunst und Videospiel thematisiert wird. Dabei sind derartige Behauptungen aufgrund des jungen Alters von Videospielen regelrecht dünnes Eis und schon viele Werke sind aufgrund der enormen Last der Gegenargumente eingebrochen. Obwohl Rez dieses Schicksal bisher noch nicht erlitten hat und dem Sturm der Kritiker erfolgreich standhalten konnte, wird es selbst dem enthusiastischsten Fan schwer fallen, das Werk von dem japanischen Gamedesigner Tetsuya Mizuguchi[1] in Worte zu fassen. offensichtlich Zu den Offensichtlichkeiten zählt das sehr simple Gameplay: Wie in jedem Vertical Rail-Shooter fliegt der Spieler mit seinem Raumschiff, in diesem Fall einer abstrakten menschenähnlichen Gestalt, quasi in den Bildschirm hinein und schießt auf seinem Flug zahlreiche Gegner, hier raumschiff- oder roboterartige Gebilde, ab. Frei bewegen kann man bei Rez allerdings nur das Fadenkreuz, Geschwindigkeit und Flugbahn sind ebenso vorgegeben, wie die einzelne Waffe und drei wesentliche Aktionen – Anvisieren, Schießen und Smart-Bomb abwerfen. Auch die grundlegende Geschichte ist prinzipiell einfach: Eine künstliche Intelligenz mit dem Namen „Eden“ ist für den allgemeinen Datenverkehr im weltweiten Datennetz zuständig, hat jedoch durch die gigantische Ansammlung von Wissen damit begonnen Selbstzweifel zu hegen und schaltet sich nun Stück für Stück ab. Der Spieler übernimmt die Rolle eines Hackers, der durch das Netz reist, um Eden zu finden und sie davon abzuhalten. In den insgesamt fünf Etappen kämpft man sich durch diverse Programmebenen und Firewalls, um am Ende einer philosophierenden künstlichen Intelligenz gegenüberzustehen, die vor allem zwei Fragen stellt: „Warum tust Du das?“ und „Was bin ich?“ Ebenfalls offensichtlich ist der technoide Grafikstil des Spiels. Schon fast avandgardistisch gegen den Trend ankämpfend möglichst realistische Optik anzustreben stellt Rez stattdessen eine extrem abstrakte, aus geometrisch angeordneten Linien, Formen und Farben bestehende Welt dar. Eine Logik scheint es zunächst nicht zu geben. Alles pulsiert und verformt sich, rauscht an dem Spieler fast willkürlich vorbei. Das Wirrwarr aus Farben und Formen ergibt erst dann Sinn, sobald man anfängt zuzuhören. Dann erst kann man feststellen, dass sich alles zur elektronischen Musik[2]bewegt. Beschossene Gegner explodieren im Takt, die Architektur des Levels wird proportional zur Anzahl der Instrumente komplexer. Oft werden neu auftauchende Gegnerformationen zum Tanz, zu jedem Tastendruck des Spielers ertönt ein Hihat, ein Bassimpuls oder eine Percussion. Je intensiver die Musik wird, desto farbenfroher und lebendiger wird das Schauspiel. Und baut sich ein Endgegner vor einem auf, wird aus Dur manchmal schlagartig Moll. weniger offensichtlich Rez wirkt also naiv betrachtet wie ein interaktiver Visualizer eines Media Players, doch wer genauer hinzuschauen vermag, erkennt, dass sich all das an dem expressionistischen Künstler Wassily Kandinsky[3] orientiert. Dieser war Synästhet. Synästhetiker sind Menschen, die mit verschmolzenen Sinnen leben. So können sie beispielsweise „Töne schmecken“ oder „Farben fühlen“. Neurologen vermuten, dass dies durch seltene Verbindungen zwischen Sinneszentren im Gehirn zustandekommt, deren Voraussetzung grundsätzlich in jedem Vorhanden ist, aber nur bei wenigen tatsächlich vorhanden ist. Es ist unbekannt, wie viele Synästhetiker es gibt. Manche sprechen von einem Verhältnis von 2000:1, während andere sagen, lediglich 1% der Weltbevölkerung seien betroffen. Kandinsky hatte eine außergewöhnliche bildnerische Intelligenz. Getrieben durch seinen ausgeprägten Sinn für das Visuelle ordnete er Farben tiefere Bedeutungen oder Assoziationen zu und stellte eine sorgfältig in Eigentests erprobte Liste auf. So war Blau für ihn kalt, tief und konzentrisch, während er Gelb als exzentrisch und aggressiv empfand. Derartige Feststellungen kommen uns heute schon fast banal vor, weil wir Kandinskys Lehre in der Sekundarstufe im Kunstunterricht erlernen. Kandinsky ordnete allerdings auch Töne den Farben zu und verließ sich da ebenfalls auf seine eigene Wahrnehmung als Synästhet. Diese als „audition colorée“ bezeichnete Art der akustischen Aufnahme ist die häufigste neurologische Disposition, die unter dem Oberbegriff Synästhesie anzusiedeln ist. Verfügt ein Mensch über die Eigenschaft des „Farben hörens“, so kann er diese Fähigkeit ebenso wenig unterbinden, wie eine Person ohne sie sein reguläres Gehör abzuschalten vermag. Das Bild, welches mit den Augen wahrgenommen wird, wird allerdings dadurch nicht beeinflusst, sondern es baut sich ein zusätzliches vor dem geistigen Auge auf. Nun darf man sich nicht der albernen Vorstellung hingeben, Farbhörer würden im Kopfinneren zu Musik plötzlich ganze Gemälde mit komplexen Details erblicken, sondern es geht hier lediglich um geometrische Formen, Linien und Farbflächen. Die Intensität dieser Projektion variiert allerdings je nach Individuum und reicht von einfachen Farblitzen bis hin zu dreidimensionalen Objekten mit charakteristischen Texturen, etwa glänzenden oder matten Oberflächen. Die inneren Bilder sind dabei keineswegs willkürlich, sondern mit den als Reizfaktor fungierenden Tönen reproduzierbar. natürlicher Techno So macht der visuelle Stil von Rez auf einmal Sinn. Zwar hält sich das Spiel nicht an das genaue Farbschema von Kandinsky, doch jede Animation, jeder Farbwechsel und jede gezogene Linie ist letztendlich Geißel der Musik. Die gibt sprichwörtlich den Ton an bei dem, was gezeigt wird – nicht umgekehrt. Mizuguchi nahm sich des Grundprinzips des audition colorée an und entwarf von dieser Ausgangsbasis aus einen visuellen Rausch, der aus Sicht eines Synästheten möglicherweise maßlos übertrieben sein könnte, aber dem unbedarften Publikum trotzdem eine ziemliche Ahnung dieser Wahrnehmung vermitteln kann. Die Orientierung des japanischen Spieledesigners wird vor allem in dem letzten der fünf Etappen deutlich, in dem der Supercomputer vor den Augen der eigenen Spielfigur die Entstehungsgeschichte der Erde rekapituliert. Klangforscher sind ebenso wie die Neurologen den symetrischen Formen auf der Spur gewesen und haben feststellen können, dass Töne und Frequenzen Formen in der Natur provozieren. U.a. haben sie feinen Sand auf metallene, durch entsprechende Befestigungen frei schwingende Metallplatten gestreut und mit einem Streichbogen einen Ton aus eben diese entlockt. Durch die Vibration formierte sich der Sand in symmetrischen Formen auf der Oberfläche und ergab Ovale oder Vierecke. Diese Verbindung zur Natur wird im letzten Level des Spiels sogar noch dadurch unterstrichen, dass zum ersten mal Bäume und ähnliche Naturelemente auch tatsächlich realitätsnäher texturiert und nicht erheblich reduziert dargestellt werden. Ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt für Mizuguchis Absichten ist die akustische Komponente selbst: In seinem Kern arbeitet elektronische Musik mit leicht nachvollziehbaren Flächen, Schichten und Strukturen. Grundprinzipien wurden in den frühen Anfängen der elektronischen Musik[4] geschaffen, die durch die etwas früher gestartete Bewegung der Futuristen[5]beeinflusst wurde. Die zugehörigen Musiker bestanden regelrecht auf neue Instrumentationen und lehnten traditionelle Notenabfolgen ab. Ebenso fügten sie als erste Geräusche mit in ihre Kompositionen ein. Einer der bedeutensten Mitwirker beim Futurismus, Luigi Russolo[6], entwickelte nicht nur „intonarumori“, also Geräuscherzeuger[7], sondern malte auch ein Gemälde, in dem unterschiedliche Aktionen und Emotionen mit Farben gekennzeichnet wurden: Eine andere Verlinkung zu der Weiterentwickungen von elektronischer Musik ist bei dem Komponisten Olivier Messiaen[8] zu finden, der als einer der ersten künstliche Klänge mit analogen vermischte. Messiaen besaß eine synästhetische Wahrnehmung und ließ diese bewußt in seine Kreationen einfließen. Er war zudem einer der ersten Musiker, die Sequenzen aus ihren Liedern bewusst in Wiederholungen variierten. Ein frühes, vorangehendes Beispiel, in der die Patterns[9] kopiert, invertiert oder moduliert werden. Aber nicht nur Messiaen ist eine Verbindung von elektronischer Musik zu Synästhesie. Ebenso können auf diese Art andere Künstler oder ihre Arbeiten gesehen werden, beispielsweise Morton Subotnick`s[10] Versuche musikalische Bilder auf die Ebene reiner elektronischer Impulse des Gehirns zu setzen. Selbstverständlich ist Synästhesie keinesfalls lediglich auf elektronische Musik beschränkt – im Gegenteil. Doch wird samt und sonders das audition colorèe aufgrund der strukturellen Parallelen gerne von Elektro-Künstlern als akustische Ergänzung zu synästhetisch inspirierten Visualisierungen verwendet. Und nicht zuletzt, weil es gerade dann für das unbedarfte Publikum wesentlich trippiger daherkommt. variable Bedeutung Letzteres dürfte letztendlich der wichtigste Anhaltspunkt dafür sein, wie man als Gamer Rez auffassen kann. Als pures Spiel hat Mizuguchis Werk reichlich wenig zu bieten, doch gerade dadurch entfaltet sich der eigentliche Reiz von Rez. Denn die Spielmechanik ist derart einfach, dass man innerhalb weniger Sekunden bereites jegliches Denken abschaltet und sich voll und ganz auf die Sinnesreize konzentrieren kann. Einen abgedunkelten Raum, sowie Kopfhörer oder eine wuchtige Soundanlage vorausgesetzt wird dann Rez bei entsprechender Aufnahmebereitschaft tatsächlich zum mitreißenden Trip, zu dem man immer wieder gern zurückkehrt. In wie weit Rez[11] nun Kunst ist wird jeder allerdings für sich selbst entscheiden müssen – denn Fakten und Beweise hin oder her: Kunst definiert sich am stärksten über die Reflektion des Rezipienten selbst. [1]Mizuguchi gilt als einer der kreativsten Gamedesigner. Aus seiner Feder stammen zum Beispiel Sega Rally, Ninety Nine Nights, Space Channel 5 oder Lumines.↩ [2]U.a. haben Musiker wie Adam Freeland, Ken Ishii oder Coldcut mitgewirkt.↩ [3]russischer Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker, 1866 – 1944↩ [4]ab 1900↩ [5]Der Futurismus ist eine aus Italien stammende avantgardistische Kunstbewegung, die von Filippo Tommaso Marinetti 1909 gegründet wurde. Da italienische Künstler sehr stark unter der kulturellen Dominaz der Renaissance litten, war der Futurismus ein wichtiger Schritt zum Selbstvertrauen in die eigene Kreativität und kultureller Emanzipation.↩ [6]italienischer Maler und Komponist, Autor von „The Art of Noises“, 1885 – 1947↩ [7]… eine Zusammenstellung von verschiedenen Boxen, die Membrane zur Erzeugung verschiedener Geräusche enthielten.↩ [8]französischer Komponist, 1908 – 1992↩ [9]musikalisches Grundmuster in der elektronischen Musik↩ [10]amerikanischer Musiker, www.mortonsubotnick.com↩ [11]Eine Information zum Schluss: REZ ist ursprünglich für die Dreamcast und für die Playstation 2 veröffentlicht worden, wurde aber 2008 für X-Box Live mit hoher Auflösung und 5.1 Surround Sound neu aufgelegt.↩