Animes und Mangas können in vielen Fällen täuschen: Ihr Zeichenstil verlässt sich meist auf Stereotypen und Überzeichnungen. Mädchen sind meist puppenhaft und zierlich, starke Männer ungewöhnlich breit und groß. Frisuren, Kostüme und Farbkombinationen beider sind nicht selten exzentrisch und es bleibt oft die Frage, wie viele Menschen in Japan sich tatsächlich so kleiden würden wie die gezeichneten Figuren. Trotzdem bieten die formelhaften Gesichter, die weitaus weniger Details als der übrige Körper haben, paradoxerweise mehr Identifikationspotential als westliche Figuren. Da kann ich natürlich nur für mich sprechen, doch gerade weil sie auf einfachste Merkmale reduziert sind, dichte ich meinen Teil dazu. Trotz weitestgehend menschlicher Proportionen fallen Animefiguren daher nie in den Uncanny Valley. Eigene Emotionen auf sie zu projizieren fällt zumindest mir leichter. Mit genau diesem Aspekt spielen gute Anime-Künstler und nutzen dies oft um ihr Publikum in einen großen dramaturgischen Abgrund fallen zu lassen. Es passierte bei etlichen OVAs: Neon Genesis Evangelion, Noein, Paranoia Agent – zu Beginn wirkt alles harmlos, irgendwo zwischen niedlich, naiv und vielleicht sogar etwas dumm. Doch bevor man merkt, dass man die Charaktere lieb gewonnen hat, geraten sie plötzlich in derart dramatische Situationen, das um sie gebangt wird. Auf einmal wird ihre Verletzbarkeit und somit letztlich Menschlichkeit spürbar. Animes sind ein ganz schön fieser Trick! Auch die Visual Novel Danganronpa: Trigger Happy Havoc ist sich seiner Mittel mehr als bewusst. Und legt seine kalten Hände um den Hals seiner Spieler, bevor sie es merken. Das Spiel erzählt die Geschichte von Makoto Naegi, einem jungen Mann, der sich selbst als schrecklich gewöhnlich und uninteressant bezeichnet. Er erhält durch ein Lotterielos eine Zulassung zur staatlichen Elite-Schule Hope’s Peak Academy, die einen ausgezeichneten Ruf besitzt und deren Absolvierung eine sorgenfreie Zukunft garantiert. Kaum betritt er die Eingangshalle, verliert er das Bewusstsein und wacht in einer völlig von der Außenwelt isolierten Etage der Schule auf. Sämtliche Fenster sind zugenagelt, an den Treppen sind Gitter und Selbstschussanlagen angebracht und es wimmelt nur so vor Überwachungskameras! Mit Makoto sind noch 14 weitere Schüler eingesperrt, die im Gegensatz zu ihm allerdings gezielt ausgewählt worden sind: Ob Martial Arts, Baseball, Popmusik oder Literatur – allesamt sind Meister ihres Fachs und oftmals sogar national bekannte Persönlichkeiten. Makoto kommt sich da reichlich deplatziert vor, ist aber somit auch die ideale Spielfigur für den Rezipienten, zumal die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt wird: Durch ihre Professionen sind auch die Verhaltensmuster der Schüler teils extrem. Nur gut, dass man sie aus einer Distanz beobachten kann. gespaltene Persönlichkeiten Die Situation verschlechtert sich massiv: Ein ferngesteuerter Teddybär namens Monokuma mit zweigeteiltem Gesicht erklärt ihnen in soziopathischer, hysterischer Manier die nun geltenden Regeln: Niemand kann Hope’s Peak Academy verlassen, es sei denn sie töten einen anderen Schüler, ohne dabei aufzufliegen! Innerhalb von Sekundenbruchteilen macht sich Misstrauen unter den Gefangenen breit. Eine Entwicklung, die Monokuma mit hämischen Grinsen begrüsst. Diese Ausgangssituation erinnert frappierend an 999 und Virtue’s Last Reward, die ebenfalls von Spike Chunsoft stammen. Im Westen aber deutlich populärer dürfte allerdings Saw sein, wo vor allem der zweite Film auf ein ähnliches Konzept setzt: Eine Gruppe von Menschen wird in eine durch makabere Spielregeln initiierte Extremsituation versetzt, um ihre mentale, als auch moralische Stärke zu prüfen. Die Aussicht auf Freiheit durch eine fragwürdige Tat lässt die Figuren ihre Handlungsoptionen laufend auf die Goldwaage legen: Wie gut lassen sich ihre eigenen Ziele, die sehr oft auch mit ihren eigenen Ängsten zusammenhängen, gegenüber denen der anderen Insassen rechtfertigen? Und vor allem: Wer hat es am ehesten verdient zu sterben? Zu Beginn des Spiels habe ich noch wegen der Stereotypen die Augen gerollt, tatsächlich brechen diese aber bald aus ihren Schablonen aus und überraschen sowohl mit ihren Reaktionen, als auch bewegenden Hintergrundgeschichten. Der gewählte Anime-Stil ist dabei die ideale Wahl für diesen Maskenball: In einem Kammerspiel, wo jeder Schüler mit voller Aufmerksamkeit um den anderen kreist, kommt es zu Anfeindungen, Annäherungen, und somit auch zu Grüppchenbildung. Nicht jeder der 15 Schüler kann im Handlungsverlauf bis ins letzte Detail beleuchtet werden, doch bleiben ihre Motivationen im Nachhinein einleuchtend. Vor allem wenn manche Charaktere plötzlich ihre Maske fallen lassen oder hinterlistige Absprachen aufgedeckt werden, fühlt man sich wie in einen guten Krimi versetzt. Danganronpa tut sehr viel, um der üblichen Statik einer Visual Novel entgegenzuwirken: Die gesamte Aufmachung ist mit nervenaufreibender Musik und skurrilen Art Designs durchsetzt. Während die Untersuchung von Gegenständen und Umgebungen, auf in Dialogen hervorstechende Textelemente umlenkbare Gespräche, und eine gewisse dreidimensionale Bewegungsfreiheit in und zwischen den Räumen fast obligatorisch erscheinen, sind es vor allem die Gerichtsverhandlungen nach einem erfolgtem Mord und die damit zusammenhängende Social Sim, die das Spiel erheblich würzen. “It’s an all-you-can-kill, kill-or-be-killed, killing-killing-killing-all-around world!” Erwischt es einen Schüler, lässt Monokuma alle Insassen in einen bizarren Gerichtssaal rufen. Wer auch immer am Ende verurteilt wird, hat mit einem makaberen Tod zu rechnen – egal ob schuldig oder nicht. Grandios an diesen Verhandlungen, die für mich zu den spannendsten Szenen des Spiels gehören, ist die Vermischung verschiedenster Genres: Durch zuvor verrichtete investigative Arbeit erhaltene Beweise und Argumente müssen im richtigem Moment „geladen“ und auf ein entsprechendes Gegenargument der Gegenpartei im Saal „abgeschossen“ werden. Wer sie nicht richtig einsetzt, erleidet erhebliche Nachteile im Disput. Die Fälle werden dabei zunehmend komplexer, das Gefühl der Befriedigung durch hohe Punktzahlen am Ende aber steigt. Beeinflussen lassen sich die Parteien vor einer Verhandlung mit Interaktionen. Gespräche oder Geschenke, die man seltsamerweise an einem Automaten in der Schulhalle kaufen kann, können Verhältnisse zum Guten oder zum Schlechten pendeln lassen. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Ereignisse im Gerichtssaal. Auch in anderen Situationen warten Minispiele, die zu meinem Erstaunen nicht nerven: Hinweise werden etwa in Comic-Puzzles zusammengesetzt und bestimmte Wörter erschließen sich durch Rhythmus-Einlagen. Die bizarre Wahl dieser Spielelemente fügt sich wunderbar zu einem ungewöhnlichem Erlebnis zusammen. Der wichtigste Aspekt einer Visual Novel bietet trotz dieser Ablenkungen keinen Grund zur Kritik: Das Spiel ist fesselnd geschrieben und bietet einen gelungenen Spannungsaufbau mit vielen Wendungen und allen erdenklichen Gefühlsphasen. Die ganze schräge Aufmachung, der manchmal infantile Humor, die scheinbaren Offensichtlichkeiten: Es ist ein Trick. Tief im Kern ist Danganronpa eine grausame Studie über die verborgene Bösartigkeit im Menschen, die man mit den richtigen Mitteln hervorlocken kann. Bösartigkeit, die zu Gewalt, Zwietracht und Grenzerfahrungen führt, die ohne den Anime-Stil vielleicht weitaus weniger erträglich gewesen wären. Vielleicht ist dieser Trick auch gar keiner, sondern dient nur zum Schutz des Spielers. Danganronpa: Trigger Happy HavocGroßartig geschriebene Visual Novel, die trotz seiner lockeren Aufmachung in seinem Kammerspiel äußerst düstere Themen behandelt und eine überraschend intensive Charakterstudie bereithält.9Gesamtwertung