Vor einigen Jahren brannte in Dortmund manchmal lichterloh der Abendhimmel. Orangenes Licht strahlte über den Dächern sämtlicher Vororte und ließ für einen Moment den Eindruck erwecken, die Stadt wäre wie Rom in Flammen aufgegangen. Verunsichert blickten meine Kinderaugen damals gen Himmel und ich erwartete den Regen von Asche und brennenden Gegenständen. „Nun wird die Welt zerbrechen.“ dachte mein naives Ich, doch stattdessen erlosch das Licht nach einigen Minuten wieder und das Firmament wurde nur noch von der urbanen Aura elektrischer Lampen bestrahlt. Wann immer das Eisen- und Stahlwerk der Hoesch AG ihren Hochofen anstocherte: Alle Bürger von Dortmund konnten es am Himmel sehen. Mein kleiner Verstand von acht Jahren konnte diese Eindrücke nicht richtig verarbeiten. Für mich war das gesamte Hoesch-Gelände ein Hort unbekannter Mächte, die ihre Tentakel in Form von zahlreichen, durch die gesamte Stadt gelegte Rohrleitungen ausfuhr und daher für mich immer präsent war. Eine dieser Leitungen führte durch einen Wald, in dem ich oft mit meinen Freunden spielte. Eine Mutprobe bestand eines Tages darin, nah an dieses Rohr heranzugehen und es mit der Hand zu berühren. Als ich die Oberfläche spürte, schoss wie ein Blitz eine Emotion durch meinen Körper, die ich nicht verstand, aber mir deutlich signalisierte: Lass los! Sekundenlang muss ich dem Glucksen und Rauschen aus dem Inneren gelauscht haben, bevor mein Verstand die Verwirrung in Panik verwandelte und ich den Hügel hinab stürmte. Deine Fantasie hat Zähne und beisst zu, wann immer sie möchte Mechanophobie nennt man die Angst vor Maschinen. Sie geht oft einher mit Metallophobie und paart sich im ungünstigsten Fall mit Klaustrophobie. Während die Hoesch AG aufgelöst, sowie der grösste Hochofen abgebaut und nach China verkauft wurde, wuchs meine Unruhe gegenüber sämtlichen Formen von Fabriken, automatisierten, großen Mechanismen und metallenen Ungetümen, die nach meiner Vorstellung einen Menschen ohne weiteres zerreissen und verschlingen konnten. Zentral war während meiner Jugend der alptraumhafte Gedanke selbst innerhalb eines geschlossenen Systems aus Rohrverbindungen gefangen zu sein. In welche Richtung ich auch kriechen würde: Jedes der zwei Enden führt unweigerlich in eine gigantische Industrieanlage und somit in das Herz gewaltiger Maschinen, die meinen Körper ohne Gewissen durch Verarbeitungsprozesse führen und am Ende nur noch zuckende Klumpen übrig lassen würden. Es ist eine zuweilen irrationale Vorstellung, aber deine Fantasie hat Zähne und beisst zu, wann immer sie möchte. Aber ich vergaß diese Ängste. Führte mein Leben, ging zur Schule, machte Freunde, verliebte mich, wurde vom Kind zum Rebell, vom Rebell zum Erwachsenen. Staub legte sich auf die Industrieruinen des Hoesch-Konzerns, Grass und Strauch umhüllten die nun unnützen Rohre in den Wäldern. Ich war diesbezüglich geheilt – bis ich Silent Hill spielte. Im Zuge der von Resident Evil verursachten Survival Horror-Welle veröffentlichte Konami am 1. August 1999 seinen Konkurrenten und setzte in einigen entscheidenden Aspekten Kontrapunkte, die dem Genre neue Impulse verleihen sollten. Offensichtlichster Unterschied war der dramaturgische Ansatz: Während in der Zombie-Reihe waffenstarrende Soldaten mit Schrotflinten die Köpfe von Mutationen platzen ließen, schlüpfte man bei Silent Hill in die Rolle eines Durchschnittsmenschen namens Harry Mason, der weder mit Pistolen umgehen konnte, noch besondere Fähigkeiten besaß. Motivation hinter der Geschichte war auch nicht die Aufklärung eines abstrusen Science Fiction-Plots rund um dubiose Machenschaften eines skrupellosen Konzerns, sondern schlicht die Suche nach dem eigenem Kind. Das Verschwinden ereignet sich während eines Autounfalls auf der Durchfahrt durch Silent Hill – und markiert den Beginn einer grausamen Odysee durch das schwarze Herz einer geschundenen Seele. Zwar haben alle bisherigen Spiele die Isolation und den Zerfall gemeinsam, doch die Mannigfaltigkeit im Detail variiert je nach Subtext. Die grundlegende Idee hinter den Silent Hill-Spielen ist, dass die Stadt die Rolle des verwunschenen Waldes in dem Archeplot einnimmt. Protagonisten und Nebencharaktere begeben sich auf eine Reise durch ihre inneren Konflikte, die sich teils in unaussprechlichen Kreaturen manifestieren. Stimmungen wie Depression oder Verwirrung spiegeln sich aber auch in der Umgebung wieder. Dabei gibt es grundsätzlich immer zwei Versionen der Stadt: Die eine ist tief in Nebel getaucht, verlassen, vergessen, aber doch in unserer Realität verankert. Ein Fleck auf der Landkarte, der über übliche Straßen erreichbar ist. Die andere Version ist ein dreckiges Spiegelbild, um ein vielfaches verdorbener, verrotteter, gefährlicher und dunkler, da Tageslicht nicht auch nur den kleinsten Quadratzentimeter dieser Dimension berührt. Man kann es Hölle nennen, vielleicht auch Jenseits, aber der Begriff spielt keine Rolle. Es ist eine Anderswelt, die aber nur eine Haaresbreite entfernt ist, wenn wir uns etwa selbst im Badezimmer betrachten. Ausgehend von diesem Ansatz wurde die Stadt im Zuge der Reihe auf unterschiedlichste Art interpretiert. Zwar haben alle bisherigen Spiele die Isolation und den Zerfall gemeinsam, doch die Mannigfaltigkeit im Detail variiert je nach Subtext. Silent Hill: The Room behandelte etwa Mutterschaft und Geburt und so zogen sich nabelschnurartige Würmer durch die Umgebungen, Platzenta-ähnliches Gewebe überzog Boden und Wände und in einer Szene muss der Protagonist sogar durch einen Tunnel kriechen, der frappierend an einen Geburtskanal erinnert. Shattered Memories lies seine Figuren hingegen durch eine vereiste Landschaft waten, in der die innere emotionale Kälte einer Person überdeutlich veranschaulicht wird. So klassisch dieses dramaturgische Grundprinzip auch ist und so profan manche Darstellungen zunächst auch wirken mögen, so sehr macht sich jede Iteration diese zu ihrem Vorteil zunutze – selbst wenn durch wechselnde Entwicklerteams die grundlegende Qualität der eigentlichen Spiele schwankend war. Meine eigene Sterblichkeit, mein Menschsein wurde mir noch nie so deutlich von einem Videospiel demonstriert. Obgleich ich von Beginn an von dem ersten Silent Hill fasziniert war und mit Wonne in die düsteren Abgründe hinabstieg, realisierte ich erst in einer Szene, dafür aber um so deutlicher, weshalb gerade die psychologische Komponente auf mich einen so großen Effekt erziehen konnte: Ich befand mich als Harry Mason in einem Raum, an dessen Ende meine Taschenlampe einen großen, etwa 4×4 Meter großen Ventilator offenbarte, der sich in einer für das menschliche Augen erkennbarer, aber trotzdem gefährlich wirkender Geschwindigkeit drehte. Er war verrostet, an seinen Rändern hing geronnenes Blut, und auch wenn es von den Programmierern nicht vorgesehen war, hatte ich jederzeit das Gefühl, ich könnte eingesogen und zerrissen werden. Während ich die Rotation betrachtete, wurde mir bewusst, dass das alternative Silent Hill mit seinen Gitterböden, metallenen Oberflächen, Rohren und anderen diversen, manchmal nicht richtig definierbaren Konstrukten genau den Ort begehbar machte, aus dem ich aus meinen Alpträumen meiner Kindheit fliehen wollte. Plötzlich nahm ich die Anderswelt als eine gigantische Maschine wahr. Ich befand mich in dieser Maschine! Ich bewegte mich durch ihre Systeme, wurde durch Mechanismen und Strukturen geschleust, die kafkaesker Natur waren. Die metallischen, kalten Eingeweide dieses Ungetüms waren greifbar, jede Berührung mit ihnen schürfte durch den tiefen Rost aber nur mehr von meiner widerstandslosen Haut ab. Ich war ein organischer Fremdkörper innerhalb eines nicht-organischen Systems. Und so wie dieser Ventilator anscheinend schon zuvor Fleisch in Stücke riss, konnte er auch mich einfach in seinen Sog aufnehmen und mit seinen scharfen, unaufhaltsamen Blättern regelrecht zersetzen; mir mit jedem Aufprall der Blätter durch Haut und Muskeln schneiden und dabei sämtliche Knochen brechen, während meine Lungen mit dem letztem Atemzug bereits das Blut meiner zerfetzten Organe einzogen. Meine eigene Sterblichkeit, mein Menschsein wurde mir noch nie so deutlich in einem Videospiel demonstriert. Und ich musste zunächst die Playstation abschalten, um mich von diesen Eindrücken zu erholen. Es dauerte ein paar Tage, bis ich den Mut hatte wieder nach Silent Hill zurückzukehren. Und es sollte sich lohnen: Das Spiel weckte mein grundlegendes Interesse an (Survival) Horror-Spielen und deren zugegebenermaßen leider nicht häufig genug genutzten Potentiale zur Konfrontation mit Ängsten. Gut gemachte Horrorspiele haben die Kraft etwas über uns selbst auszusagen; uns zu mit Phobien zu konfrontieren oder sogar mit Fragen zu Schuld anzusprechen. Sie sind kein Ersatz für Gespräche mit anderen Personen über diese Themen, aber sie können Denkprozesse und zum philosophieren anregen. Silent Hill ist das erste kommerzielle Survival Horror-Spiel für den breit gefächterten Markt, dass diesen Beweis antrat und auch heute noch Spieldesigner maßgeblich beeinflusst. Heute mag das technisch für die meisten Rezipienten sicher nur schwer akzeptable Spiel ähnlich brach liegen wie die Industrieruinen der Hoesch AG, doch wer ihre Zeit miterlebt hat, weiß: Einst brannte es wie die Hölle taghell und ihr Anblick lies uns in Ehrfurcht erstarren.[1] [1]Dieser Artikel ist ursprünglich auf Superlevel.de erschienen und auch auf Frightening.de zu finden.↩