Ich habe noch nicht die Bekanntschaft mit Commander Shepard gemacht. Die Mass Effect-Reihe hat jedoch bereits einen Platz im Regal und wartet darauf mich in absehbarer Zeit (wahrscheinlich) zu begeistern. Für die nun vollendete Trilogie werde ich mir die Zeit gerne nehmen. Doch obwohl ich noch keine der Figuren aus der Weltraum-Saga kennengelernt, keine der Verstrickungen miterlebt und keine der Kämpfe ausgetragen habe, die Spieler der ganzen Welt bewegt haben, hat mich eine Meldung sehr verärgert: Aufgrund heftiger Kontroversen bezüglich des Endes der Reihe erwägt der Entwickler Bioware ernsthaft selbiges nachträglich zu verändern oder zumindest zu relativieren. In welcher Form dies genau geschieht hat Ray Muzyka[1], einer der Gründer von Bioware, in einem offenen Brief noch nicht konkretisiert. Fakt ist aber: Es wird auf die Forderungen der Fans eingegangen und sich auf die Suche nach einer zufriedenstellenden Lösung gemacht. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Denn abgesehen davon, dass Bioware offenbar nicht das nötige Rückrat besitzt um den Ausgang ihres eigenen Epos zu verteidigen, wird den „engsten Fans“ ein Sonderrecht zuteil, über das sie unter den Gesichtspunkten der Vernunft gar nicht verfügen dürften. Ganz zu Schweigen, dass Biowares Fügung ein völlig falsches Signal für die gesamte Industrie setzt. Die nachträgliche Veränderung von Geschichten und vor allem Enden ist medienübergreifend längst keine Neuerscheinung mehr. Bei Kinofilmen, die von großen, amerikanischen Studios produziert werden, werden regelmäßig Testscreenings abgehalten, wo bei besonders negativem Feedback das Filmteam sogar noch einmal zusammengetrommelt wird, um neue Szenen zu integrieren. So etwa geschehen bei Final Destination 3, wo ein weiteres, abschließendes U-Bahn-Unglück angefügt wurde[2]. Alternative Enden werden manchmal auch schon während der geplanten Produktion gedreht, um die Entscheidung letztendlich im Schnitt zu fällen. Bei Veröffentlichungen für den Heimmarkt sind unter den Bonusmaterialen oft alternative Schlusszenen zu finden. Selbst in der Literatur sind verschiedene Editionen und somit laufende Veränderungen keine Seltenheit. Aktuelle Trivialliteratur ist davon in den allerwenigsten Fällen betroffen, aber manche Klassiker, wie etwa Grimms Märchen, haben verschiedene Prozesse durchlebt. Insgesamt acht Auflagen hat allein die „Große Edition“ gebraucht, um die Autoren, Kritiker und den Verleger zufrieden stellen zu können.[3] Wenn zumindest die Originalautoren selbst ihr eigenes ursprüngliches Finale verwerfen oder einen vertröstenden Epilog nachträglich addieren, ist es zwar das kleinere Übel, doch es behält – völlig unabhängig davon ob es ein Film, Buch oder Spiel ist – einen gewissen, kaum wegspühlbaren Nachgeschmack. Der Künstler muss nachgeben; seine Intuition und seine vorangegangenen Überlegungen, Recherchen, ja, Fantasien überdenken, streichen, zensieren, manipulieren, exekutieren. Die Meinung des oder der Autoren spielen dann nur noch die zweite Geige. Maßgebend ist die Zufriedenheit der Kunden. Schon dieser Begriff deutet darauf hin: Es geht um den Sieg von Kommerz über Kunst. Als würde Shakespeare das verbotene Liebespaar überleben lassen oder als hätte Hesse seinen Haller zusammen mit Mozart lachen lassen; als würde Hannibal Lecter niedergestreckt, Oh Dae-su erlöst, Vincent und Marsellus erschossen oder Norman einer heilenden Therapie unterzogen werden. Man stelle sich vor: Gordan Freeman hätte zum Schluss einen flotten One-Liner zum Besten gegeben. Oder James Sunderland wäre nie aus seinem Trauma erwacht. Niko wäre vielleicht auf halben Wege der Spirale der Gewalt entflohen, Sonic hätte sich verlaufen und Mario würde versuchen woanders Rohre zu verlegen. Zugunsten allgemeiner Zufriedenheit gibt man also klein bei. Die Vision einzelner kreativer Köpfe, der Macher, ist dies letztendlich allerdings nicht. Die klassischen Rollen in der Kunst, dass jemand kreiert und jemand anderes reflektiert, werden so partiell schwammig. Sicher, ich hole hier schon wieder die verhasste Kunstkeule raus, aber zwei Dinge sind elementar: Zum einen sind Spiele, die eine weitestgehend lineare Geschichte erzählen und lediglich verschiedene Abzweigungen auf dem Weg anbieten, längst nicht als Wunschkonzert vorgesehen. Friss oder stirb. Es ist seit Jahrhunderten ein Axiom eines Stücks, dass jemand es entwirft, erzählt, gar aufführt und andere hören oder sehen zu. Man unterbricht einen Geschichtenerzähler nicht und wirft ein: „Hey, das gefällt mir überhaupt nicht.“ Ist die Geschichte bzw. die Immersion gut, lässt man sich treiben. Wem es nicht gefällt: Bitte, da ist die Tür. Und kleine Stolpersteine mittendrin lockern nur auf oder sorgen für Hader, was die bloße, spurenlose Berieselung des Publikums verhindern kann. Ob ein Erzähler seine Geschichte mit zufriedenstellender Bilanz für alle Zuhörer abschließt oder noch einmal einen Denkanstoß gibt, ist allein seine Entscheidung. Zum anderen: Es ist wichtig obiges zu akzeptieren, wenn man möchte, dass Spiele als Kulturgut angesehen werden. Wam! Schon wieder die Kunstkeule. Aber Reibereien und Unzufriedenheit über dramaturgische Entwicklungen bzw. Ausgänge gehören zur reflektierenden Auseinandersetzung mit Werken dazu. Ja, sogar Desillusion ist nicht ausgeschlossen! Kunst ist, wenn man emotional berührt ist und herzhaft darüber diskutieren kann. Kunst ist, wenn man sich darüber ärgern und wundern kann. Kunst ist, wenn man viel Zeit und Herzblut damit verbringen könnte, um sein Lieblingswerk zu verteidigen oder seiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen. Dies geschieht derzeit mit der Mass Effect-Trilogie. Tausende von Spielern haben viele Stunden mit den Spielen verbracht; sind eins mit Commander Shepard geworden. Sie erzählen gerne von Ihren Erfahrungen; einige sind sogar bereit verbal darum zu kämpfen. Und auch um das Ende darf selbstredend gefochten werden. Es gefällt euch nicht? Auf der einen Seite die Autoren und die Fürsprecher, auf der anderen die Kontrahenten. Ring frei! Aber im Ring wird nicht sauber gekämpft. Ein Schiedsrichter in Form eines Forenadministrators[4] oder einer redaktionellen Kraft im Kommentarbereich wird fast ignoriert. Wütende Fans schlagen immer weiter auf die Befürworter ein. Und zielen dabei oft unter die Gürtellinie. Es hagelt destruktive Kommentare, Teammitglieder von Bioware werden persönlich angegriffen, sogar Morddrohungen sind eine Option. Von diesen Fällen hört man öfter aus diesem ominösen Internet. Ninja Theory zum Beispiel – die Macher von Heavenly Sword und Enslaved – haben für ihre Neuinterpretation des Outfits von Dante im neuem Devil May Cry böse Briefe bekommen, die vor Hass nur so überquollen[5]. Gern verwendete Phrasen sind u.a. „Ihr zerstört meine Kindheit“, „Wir lassen nicht zu, dass ihr unsere Lieblingsreihe vergewaltigt.“ oder schlicht „Für dieses Verbrechen wünsche ich euch den Tod.“. Was ist da bloß los? Was sind das für Menschen, die solche Dinge – Inkognito durch kryptische Pseudonyme und unbekannten Standtorten irgendwo auf dieser Welt – anderen Menschen entgegenschmettern, die sie nicht einmal persönlich kennen? Aber vielleicht ist genau diese bequeme Position der springende Punkt. Vielleicht öffnet die Anonymität das Ventil um Missvergnügen freien Lauf zu lassen, ohne mit persönlichen Konsequenzen rechnen zu müssen. Vielleicht weckt die sichere Distanz und die Investition von etwas Geld den Glauben, man habe Besitzrecht an den Spielen, gar an der weiteren Entwicklung einer Reihe. Wie viele Spieler sehen statt kreativem Werk nur eine Dienstleistung? Und wie niedrig ist die Schwelle, wo puerilistische Trotzreaktionen hervorgerufen werden, die in verbalen Übergriffen resultieren? Man kann nur spekulieren, doch Fakt ist: Im Internet verhalten sich mehr Menschen wie Arschlöcher, als einem lieb sein kann. Ebenso Fakt ist: Weit verbreitet ist das Mindset des alles vernichtenden Finitum. In jüngster Zeit haben wir es an der TV-Serie „Lost“ oder an dem Film „Source Code“ gesehen. Negativstimmen, die sich mit dem Ende gar nicht anfreunden konnten, sprechen davon, dass die gesamte Serie bzw. der gesamte Film ad absurdum geführt wird. Plötzlich ist alles einen feuchten Kehricht wert. Man hätte ja soviel persönliche Anteilnahme investiert und wäre ja betrogen worden. Alles wäre umsonst gewesen; völlige Verschwendung wertvoller Lebenszeit. Interessanterweise wird dabei der gesamte Weg dazwischen völlig außer Acht gelassen. Was ist mit den vielen Buchstaben zwischen A und Z? Charaktere in guten Geschichten entwickeln sich, machen Erfahrungen und dadurch Wandlungen durch. Sicher, es gibt zumeist einen großen, zusammenhängenden Plot, aber dazwischen geschehen tausend kleine Dinge, die es ebenso Wert sind beachtet zu werden und vielleicht sogar mehr aussagen, als eine Rahmenhandlung, die vermutlich eher dazu dient die Bühne einzugrenzen. Selbst wenn das Ende von Mass Effect 3 völlig grotesk wäre, ja, sogar wenn Shepard sich mit Erdnussbutter eincremen und sich von garstig-notgeilen Ganzkörper-Zungen-Aliens bis auf die Knochen tot lecken lassen würde, der Weg bis dahin kann niemals umsonst gewesen sein. Wie in vielen anderen Spielen, vielen anderen Erzählungen wurden zwischendurch immer wieder Meilensteine erreicht und Erfahrungen gesammelt. Eine gelungene Dramaturgie berücksichtigt immer einen Lernprozess für die Protagonisten und den Rezipienten. Sie spiegelt Aspekte des Lebens wieder. Insofern ist das Argument, ein aus mannigfaltigen Gründen unbefriedigender Abschluss würde den gesamten Ablauf bis dahin völlig unbrauchbar verderben, so gut wie immer inakzeptabel. Anders formuliert: Wenn jeder Mensch am Ende sterben muss, war sein Leben dann etwa umsonst? [1]http://blog.bioware.com/2012/03/21/4108/↩ [2]http://www.imdb.com/title/tt0414982/alternateversions↩ [3]http://www.monumente-online.de/12/01/leitartikel/Brueder_Grimm_Maerchen.php↩ [4]http://social.bioware.com/forum/1/index↩ [5]http://www.eurogamer.de/articles/2012-01-06-ninja-theory-erhielt-morddrohungen-wegen-dmc↩