In einer Zeit, in der Video- und Computerspielentwickler gerade erst zu entdecken scheinen, dass sie mit ihren Werken auch emotional berühren können, ist die Zahl der Titel, die tatsächlich das Herz erreichen, schwindend gering und möglicherweise an zwei, vielleicht drei Händen abzählbar. Es wird sicherlich noch etwas dauern, bis diesbezüglich auf beiden Seiten Offenheit herrscht. Trotz vieler guter Ansätze sind Spiele heute immer noch eher zum schnellen Vergnügen gedacht, wodurch sie sich zwangsläufig der Erwartungshaltung ihrer Zielgruppe unterwerfen. Es sind also noch weitere Pioniere nötig, um auf das Potential des Mediums für tiefgründige Inhalte aufmerksam zu machen, ohne dabei jedoch das Spiel selbst aus den Augen zu verlieren. Jedoch scheint sich diese schwere Last zwangsläufig auch auf den Tenor jener Inhalte abzufärben. Viele inhaltlich anspruchsvolle Video- und Computerspiele waren bisher primär traurig, deprimierend, manchmal sogar schrecklich selbstbemitleidend. Insofern strahlt „Ōkami“ zwischen diesen Titeln eine erfrischende Aura aus: Es ist zwar sehr wehmütig und traurig, aber es beherbergt auch so viel Freude und Schönheit, dass es immer wieder ein Lächeln auf das Gesicht des Spielers zaubert.

bekannte unbekannte Geschichte
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Der Leiter der ehemaligen Clover Studios Atsushi Inaba hat offenbar erkannt, dass man nicht immer alles neu erfinden muss, um eine fantasiereiche Geschichte zu erzählen. Aus der glitzernden Schatzkiste japanischer Folklore, Fabeln und Religion pickte er sich zusammen mit seinem Team die interessantesten Elemente heraus, um im leicht modernen Gewand ein Märchen aus Japans Mythenwelt zu erzählen, welches sich um das Schicksal der Sonnengöttin Amaterasu dreht. Diese wandelt irgendwo in der Zeitepoche des Altertums in Gestalt einer weißen Wölfin auf Erden, um ein Monstrum namens Orochi aufzuhalten. Von einem Unbekannten wurde das Bannsiegel, womit das Ungetüm über viele Jahre lang zurückgehalten wurde, gebrochen. Die unerfreuliche Befreiung macht sich schlagartig im gesamten Inselreich bemerkbar: Sämtliche Pflanzen verderben, Mensch und Tier erstarren zu Stein oder leiden unter der Unfruchtbarkeit der Natur oder diversen Krankheiten. Amaterasu ist die Göttin des Lichts und die Mutter allen Lebens, daher kann nur sie genug Kraft entfalten, um das Böse aufzuhalten. Zusammen mit dem winzigen, aber umso frecheren wandernden Künstler Issun macht sie sich auf eine lange Reise durch das Land und bekämpft auf ihrem Weg zahlreiche Dämonen und anderes Ungetüm.

Allerdings kann Amaterasu zu Beginn nicht mit voller Kraft ihrer göttlichen Mission nachgehen, sondern muss erst nach und nach zu alter Stärke zurückgewinnen. So lernt sie im Laufe des Abenteuers stets neue Fähigkeiten dazu und sammelt ebenso hilfreiche Gegenstände, die sie entweder durch Interaktion mit den Einwohnern erlangt oder sich schlicht mit Geld erkaufen kann [1]. Die Grenzen der Spielewelt sind so stehts durch die Erfahrungswerte und Aufgabenstellungen definiert, die jedoch so geschickt inszeniert und verwoben sind, dass dem Spieler erfolgreich eine Non-Linearität vorgetäuscht wird. Trotz der eigentlich enormen Bewegungsfreiheit nimmt Clover sein Publikum somit dennoch seicht an die Hand und legt einen roten Faden, von dem stets in Form von Side-Quests abgewichen werden kann, ohne je in Zeitdruck zu geraten. Das steht dem Zelda-inspirierten Action-Adventure nicht nur gut, sondern teilweise sogar noch besser als seinem vermeintlichem Vorbild.

Es ist wenig überraschend, dass es so etwas ähnliches wie Dungeons gibt, dass große Endgegner besiegt werden müssen und dass es eine Ansammlung von Minispielen gibt. Umso mehr jedoch, dass man sich die meiste Zeit durch Dörfer, Städte und vor allem das offene Land bewegt. „Ōkami“ möchte seine Spieler erst gar nicht in strikt abgetrennte Abschnitte hineinsperren, die fast so wirken wie Attraktionen aus Themenparks. Stattdessen wirken sämtliche Handlungsorte – ob drinnen oder draussen – wie aus einem Guß, was nicht zuletzt durch die besagte Implementierung größerer Landstriche geschieht. Ebenso wirkt die Plazierung der Charaktere niemals wirkürlich. Jede noch so scheinbar unwichtige Figur hat ihre eigene kleine Geschichte und somit auch ihre eigenen Sorgen und Wünsche. Clover hat nicht nur dafür gesorgt, dass die Welt von „Ōkami“ höchst greifbar für den Spieler wird, sondern dass dieser sich selbst nach der Session gern an die dort erlebten Abenteuer und Figuren erinnern wird.

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„May the fresh scent of flowers protect you always!“

– tree-spirit Sakuya

In „Ōkami“ dreht sich alles um das Erblühen und Vergehen, Fruchtbarkeit, sowie um den eigenen Weg im Leben. Amaterasu bewirkt mit ihren Aktionen Gutes für Natur, Mensch und Tier und der Spieler wird nur mit Erfahrungspunkten belohnt, wenn er eben dieses tut. Bringt man die durch den Fluch von Orochi zerstörte Umwelt wieder zum erblühen, wird dies ebenso prämiert wie beispielsweise das Füttern von hungrigen Tieren. Menschen haben höchst individuelle Wünsche oder Probleme. Während der eine sich lediglich eine Sternschnuppe am Himmel wünscht, wird der andere von einem Geist geplagt oder befindet sich sogar in einer lebensbedrohlichen Situation. Oft kommt es vor, dass sie erst durch die Begegnungen mit der Wölfin zu neuen, teils lebensverändernden Einsichten kommen. Im Verlauf der Reise lernt der Spieler viele Lebensphilosophien der virtuellen Charaktere kennen und kann durch sein Wirken sogar eine Wandlung derer bezwecken.
Amaterasu erhält nie Erfahrungspunkte, wenn sie einen Dämonen tötet, sondern nur in den oben genannten Fällen. Mit Hilfe der Punkte können Fähigkeiten weiter ausgebaut werden; mit anderen Worten: Die Göttlichkeit Amaterasus steigt nur durch gute Taten, und nicht durch das Zerstören selbst, während die Erweiterung der eigenen Möglichkeiten die Türen für weitere gute Taten eröffnet. In Anbetracht der vielen Kriegsspiele, die dieser Tage erschienen sind und noch erscheinen werden, ist die grundlegende Idee hinter „Ōkami“ schon fast eine Erholung.

ein Fest für die Sinne
Die inhaltlichen Aspekte stehen im vollen Einklang mit der audiovisuellen Präsentation des Spiels. Clover hat auf jegliche Bestebungen nach einer möglichst realistischen grafischen Darstellung verzichtet und stellt die Spielewelt im Stile ostasiatischer Tuschezeichnungen dar. Das bedeutet konkret, dass auf der stehts auf der gesamten Bildfläche zu sehenden Reispapierstruktur dicke, wie vom Pinsel gezeichnete Linien als Konturen zu sehen sind, während das gesamte Bild durch pastellartige Farben coloriert ist. Das mag gewagt klingen, ist aber gerade im Bewegung schlicht atemberaubend und lässt sogar viele künstlerisch anspruchsvolle Zeichentrickfilme verblassen. Dunkle Flächen wirken noch wie gerade erst aufgetragene, leicht wabernde Tinte, Windböhen am Himmel werden durch wie von einem unsichtbaren Pinsel gezeichneten Wirbel dargestellt, Amaterasu zieht einen leichten Farbschweif beim Laufen hinter sich her. Nur drei der vielen optischen Details.
„Trickfilm“ ist ein gutes Stichwort, denn die Bewegungen der Figuren besitzen einen comichaften Charakter, ohne dass dieser in irgendeiner Art deplaziert wirkt. Ganz im Gegenteil: Durch diesen ungewöhnlichen Stil zwischen Tradition und Moderne werden gerade die Bewohner der virtuellen Welt erst richtig dynamisch und vor allem sympatisch. Das passt gut zu dem frechen Humor, der gekonnt eingestreut wird und teilweise das Spiel selbst auf die Schippe nimmt. „Ōkami“ wirkt dadurch trotz der ersten Themen nie zu steif.

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Neben der visuellen Darstellung ist auch die musikalische Untermalung einfach umwerfend. Die hauptsächlich aus typisch asiatischen anmutenden Instrumenten arrangierte Musik verwendet viele eher westlich wirkende Melodieführungen und wandelt gekonnt auf dem schmalen Grad zwischen traditionellen Klängen und nach neuen Kinodramen klingenden Kompositionen. Die gesamte Palette der verwendeten Musikstücke umfasst etwa fünf Audio-CDs[2]. Trotz des enormen Umfangs wirkt kein Titel zuviel. Jedes noch so kurze Musikstück spielt überzeugend auf der dramaturgischen Klaviatur und trägt erheblich zum gegebenen Gesamtkontext bei, so dass nicht nur die visuellen Darstellungen allein über düstere, heitere oder sentimentale Augenblicke bestimmen. Ebenso ist bemerkenswert, dass trotz der eigentlich klaren Stillinie ein großer Variantenreichtum erziehlt werden konnte. So sind die einzelnen Titel des Soundtracks ohne das Spiel nicht nur eindeutig zur jeweiligen Szenen zuordbar, sondern auch ungewohnt präsent.
malerische Ideen

Die künstlerische Gestaltung von „Ōkami“ ist derart gelungen und wundervoll, dass man als Unwissender geradezu erwarten würde, dass das eigentliche Spiel gegenüber den audiovisuellen Elementen untergeht. Umso größer wird die Verwunderung darüber sein, dass Clover trotz des bewährten Action-Adventure-Konzepts den einen oder anderen innovativen Kniff eingebaut hat. Der auffälligste dürfte der göttliche Pinsel sein, über den Amaterasu verfügt. Mit ihm wird dem Spieler ermöglicht, das Spiel auf Knopfdruck zu pausieren und mit kaligraphischen Strichen das Geschehen zu beeinflussen. Das sieht in der Praxis so aus, dass ein senkrecht gezogener Strich durch einen Gegner denselbigen zerteilen kann. Verdorrte Bäume erblühen durch einen Kreis um die Krone. Punkte im Himmel werden zu Sternen; gemalte Sonnen und Monde dorthin rufen die zugehörige Tageszeit herbei. Muss eine Schlucht überwunden werden, kann eine Brücke gezeichnet werden. Aus Gewitterwolken zuckende Blitze leitet der Pinsel zu Objekten und Gegnern im Kampf. Wind wird durch die Zeichnung eines Wirbels erzeugt, Freund und Feind können zur Verwirrung mit Tinte bekleckert werden, und, und, und.
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Das Gameplayelement mit dem Pinsel fügt sich derart gut zur Aufmachung und in den Spielverlauf ein, dass man es nach gewisser Spielzeit als ein völlig selbstverständliches Element akzeptiert hat, dass niemals aufgesetzt wirkt. Dass dabei die Kämpfe – die innerhalb einer durch einen Bannkreis abgegrenzten Arena stattfinden – viel Geschicklichkeit fordern und unerwartet viel taktische Tiefe bieten, fügt sich ebenso in das fast makellose Gameplay ein wie die enorme Abwechslung und der erstaunliche Ideenreichtum der Quests. Fast, da das Spiel leider ein klein wenig zu leicht geraten ist – zumindest, wenn man es an dem Maßstab eines fortgeschrittenen Spielers misst. Das hat aber immerhin den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass es keine frustrierenden Spielsituationen gibt, was dem ohnehin schon großartigen Pacing einen weiteren, eigentlich schon fast nicht benötigten Vorteil verschafft.

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fehlende Worte

Dieser Text ist bewusst eher an der Oberfläche geblieben, anstatt richtig auf einzelne Details von „Ōkami“ einzugehen. Im Grunde würde es wesentlich mehr Zeilen erfordern, um dem Leser dieses Spiel vorstellbar zu machen. Aber eigentlich sind sämtliche Bestrebungen unnütz, denn Clover hat mit diesem Action-Adventure ein derart dramaturgisch wunderschönes, technisch beeindruckendes, künstlerisch hochwertiges und gameplaytechnisch fast makelloses Videospiel entwickelt, dass jegliche Versuche es zu beschreiben von vornerein beinahe zum Scheitern verurteilt sind. Alle Elemente – Inhalt, Ästhetik und Gamedesign – greifen so gut ineinander wie in kaum einem anderem Spiel zuvor. „Ōkami“ mag sicherlich nicht alle Geschmäcker ansprechen, setzt aber trotzdem ein Zeichen in der kunterbunten Welt der Spiele und wird auch viele Jahre nach seiner Veröffentlichung positiv in Erinnerung bleiben.

Die Fachpresse hat fast im Chor Purzelbaum geschlagen und das Spiel mit Superlativen überhäuft. Hier ist endlich ein Spiel, dass dies tatsächlich verdient hat. Ein zeitloses Videospielkunstwerk, dass auch, aber nicht nur aufgrund seiner positiven Lebensphilosophien gerade gegenüber seinen primär deprissiven Mitkämpfern für inhaltlich anspruchsvollere Konzepte eine besondere Rolle einnimmt.

Okami
Ich liebe dieses Spiel! Jede. Einzelne. Sekunde. Die Ästhetik nimmt mich gefangen, die Philosophie hinter der Geschichte berührt mich, der Witz und Charme bringt mich zum Lachen. Okami ist eines meiner Lieblingsspiele geworden und hat einen festen Platz in meinem Herzen.
10Gesamtwertung
  1. [1]Ja, die Händler verkaufen tatsächlich an ein Tier. In der Welt von „Okami“ ist es offenbar nicht ungewöhnlich, dass Hunde oder verwandte Tierarten von ihrem Herrchen für Besorgungen losgeschickt wird
  2. [2]Der Soundtrack lässt sich auch einzeln erwerben und ist höchst hörenswert. Bekommen kann man ihn beispielsweise auf www.play-asia.de