Es sind keine guten Voraussetzungen: D4 ist ein interaktiver Film, der weder aufwendiges Motion-, gar Performance Capturing zurückgreifen kann. Er hat einen flimmernden Cel Shading-Stil, der selbst vor einigen Jahren veraltet ausgesehen hätte. Gesteuert wird mit Kinect; eine Form der Eingabe, die sich seit ihrem ersten Auftritt in den heimischen Wohnzimmern nicht gerade beliebt gemacht hat. Darüber hinaus wird es in Episodenform erzählt, und wirft etliche Genres durcheinander. Vom Krimi, zu Mystery, Horror, Komödie und Drama springt das Drehbuch fast im Sekundentakt umher, mischt bizarre Mini-Spiele unter, setzt auf überdrehtes Voice Acting und irritiert den Spieler mit etlichen Mechaniken, die zunächst nur wenig Sinn ergeben. D4 ist das genaue Gegenteil von hochkarätigen Produktionen wie Heavy Rain oder Beyond. Und doch versprüht es in den ersten fünf Minuten bereits mehr Charme als beide dieser Titel zusammen.

„Die Verwandschaft zu Deadly Premonition ist kaum zu übersehen.“
d4_1v2

d4_2v2Dabei sollte ich darüber eigentlich nicht überrascht sein: Die exklusive Xbox One-Produktion ist eine Arbeit von Hidetaka Suehiro (SWERY), der sich mit Spielen wie Tomba! 2, Spy Fiction oder Deadly Premonition einen Namen gemacht hat. Die Verwandtschaft zu Letzterem ist kaum zu übersehen: Auch diesmal schlüpft man in die Rolle eines Ermittlers und klärt einen bizarren Mordfall auf. David Young ist sein Name, und er verfügt über eine sonderbare Gabe: Mithilfe von sogenannten Mementos – Beweisstücken, die von einem Verbrecher berührt worden sind – kann er in seine Badewanne steigen (!), darin in die Vergangenheit reisen (!!) und Ereignisse in der Zukunft verändern (!!!). Mementos, die der während dieser Zeitreise einsammelt, kann er wieder mit in die Gegenwart in seine Wohnung nehmen (!!!!), wo er zusammen mit einer Frau lebt, die sich für eine Katze hält (!!!!!).

 

Und das war erst der Anfang: Die erste Zeitreise im Spiel führt in ein Passagierflugzeug, das vollgestopft mit Charakteren ist, die das Wort „skurril“ äußerst strapazieren. Da wäre der latent aggressive Marschall, bei dem selbst ein einfacher Füller zu einer tödlichen Waffe werden kann. Oder die hysterische, blonde Frau, die sich in einem Notizbuch penibel alle Hinweise aufschreibt, die auf einen möglichen Flugzeugabsturz hinweisen könnten. Sie sind aber beide kein Vergleich zu dem Flugbegleiter, der nur unter äußerster Anstrengung Selbstkontrolle bewahren kann, selbst nachdem er Beruhigungsmittel inhaliert. Oder dem Modedesigner mit der schrillen Frisur, der immer eine Kleiderpuppe bei sich trägt, diese gar als seine beste Freundin bezeichnet.

d4_14

Diese Figuren habe ich gerade einmal in der ersten Stunde kennengelernt, und es sollten noch weitere auf mich warten. Wann immer ein neuer Charakter vorgestellt wurde, wann immer Gespräche stattgefunden haben, wann immer neue Verwicklungen zutage traten: Ich hatte jederzeit meine helle Freude an dem Einfallsreichtum, der Absurdität, dem Witz und der daraus folgenden Sympathie für sie alle. Ob gut oder böse: Keine der Charaktere lies mich kalt, völlig egal wie verrückt sie auch waren.

d4_08

Das Interface ist einleuchtend und effektiv für die Bewegungssteuerung konzipiert worden. Ähnlich wie bei Adventures auf dem PC wird der Zeiger mit der Hand über den Schirm bewegt. Hotspots können mit einem Handgriff oder einer Stoßbewegung aktiviert werden. Selbst in Filmsequenzen tauchen immer wieder solche Info-Punkte auf, deren Aktivierung honoriert wird. Alternativ kann auch mit dem Controller gespielt werden.

 

Eine der grössten Stärken von D4 ist, dass unter all diesem überbordernden Irrsinn, hinter dieser Freakshow eine tiefe Menschlichkeit steckt. Die Handlung stellt Fragen zu Schuld, Depression und Verlust. Etwas, was ich hier zunächst gar nicht vermutet hätte. Spielmechaniken, wie etwa der ständige Bedarf nach Nahrung, ausufernde QTE-Sequenzen oder Quiz-Minispiele, sind nicht nur zum reinen Selbstzweck da, sondern unterstützen die Protagonisten und ihre Spleens über das erstklassig vertonte Dialogbuch hinaus. Oft habe ich mich gewundert, was der Blödsinn soll, aber irgendwann kommt der Punkt, wo es mir einleuchtete. Es dauerte nicht lange, bis ich beinahe süchtig nach den nicht enden wollenden Ideen von SWERY wurde. Und als die beiden ersten Episoden mit einem Cliffhanger endeten, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich schon an die Charaktere gewöhnt hatte.

d4_3
„David, you can’t change the past.“

DER SOUNDTRACK von Tomomi Teratani und Yuji Takenouchi leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass D4 eine Seele erhält. Viele Stücke sind an das Detektiv-Thema angepasst und erinnern sehr an amerikanische Krimiserien aus den 80ern. Doch im Repertoire befinden sich auch andere Lieder verschiedener Genres, die das sog. Theming erfolgreich meistern: Figuren und Situationen erhalten eine eindeutige Identität, ohne dass die Musik zu sehr in den Vordergrund rückt.

Das ausgerechnet die Kinect-Steuerung es sein sollte, die mir die Identifikation mit David Young erheblich vereinfacht, ist eine besondere Überraschung. Abgesehen davon, dass sie technisch völlig einwandfrei und ohne Erkennungsschwierigkeiten funktioniert, wirken Handgriffe und Bewegungen erstaunlich intuitiv. Besonders toll fand ich die Ermittlungssequenzen, wo ich in Ruhe eine Szene mit der Hand absuchen konnte. Möchte ich mit einem Gegenstand oder einer Person interagieren, greife ich einfach zu. Oder ich stoße es an. Kleine Informationen ploppen dabei links und rechts auf, Gedanken, die Young bei der Beobachtung und Untersuchung durch den Kopf schießen.

 
In vielen Kinect-Actionszenen gibt sich D4 bewusst albern und verspielt, entwirft verrückte Choreografien und hat herrliche Einfälle. So muss ich zum Beispiel an einer Stelle in das Mikrofon brüllen, damit David Young dies im Spiel mit einem Megafon tut. Bei Heavy Rain kam ich mir beim Braten eines Spiegeleis noch reichlich bescheuert vor, doch D4 bringt es fertig solch profane Dinge zum großen Spaß zu machen, den man nur zu gerne mitmacht.

D4: Dark Dreams Don't Die - Season 1
Die erste Season von D4 ist derart verwirrend, verrückt und eigenartig, das man ein selbstzweckhaftes Konvolut aus bescheuerten Einfällen vermuten könnte. Doch tief darunter verbirgt sich eine unerwartete Menschlichkeit, die durch den Irrsinn nur noch greifbarer wirkt. Ein großartiges Werk, von dem ich mir unbedingt weitere Episoden wünsche.


9Gesamtwertung