Einsam strich ich durch eine Eiswüste. Die Kälte wehte mir ums Gesicht, während ich mit einer Waffe im Anschlag Schneehügel für Schneehügel erklomm und jederzeit damit rechnen musste, urplötzlich von einem Monster angesprungen zu werden. Seit dem Flugzeugabsturz habe ich gelernt: Die Welt hat Zähne, und sie kann zubeißen, wann immer sie möchte. Die Kälte formt ihre Fratze. Ich stellte mir einen mit spitzen Beißern übersäten Mund vor, ein Gebiss aus spitzen Einszapfen, ergänzt durch menschliche, herausgerissene Augen, die in die Höhlen gepresst wurden. Die Iris war unter dem Schleier gefrorener Wasserpartikel kaum zu erkennen, die Sehnerven hingegen fest eingefroren im klarem Eis und daher gut sichtbar. Eine transparente, grinsende Fratze mit toten Augen, die doch in alle Richtungen zu sehen schien, in die ich mich bewegte. Ihre Präsenz verstärkte das Gefühl absoluter Isolation, absoluter Ausweglosigkeit dem Gefühl, am Ende der Welt abgestürzt zu sein und jeglichen Bezug zum Leben verloren zu haben. Ein Schwebezustand, vielleicht gleichbedeutend mit einem Wachtraum, bei dem die Hoffnung irgendwann doch einfach aufzuwachen, mit jeder Minute schwindet. Und doch finde ich in dieser dunkelsten Stunde eine Freundin, die mir zur Seite steht und für die es sich lohnt jede noch so kleinen, verbliebenen Funken Energie zu sammeln; sich immer wieder aufzuraffen. Während die Fratze dort draußen grinste, verkrochen wir uns in eine einsame Berghütte. Sie spielte ein Lied auf ihrer Gitarre. Counting the roses. Es brannte sich in mein Gehirn ein; ich summte es fortan immer und immer wieder, wenn die Kälte mich zu übermannen drohte, wenn meine Wunden mich den Zähnen näher kommen ließ. Und erst als ich fast am Ende meiner Reise ankam und mitten in der grössten eisigen Einöde plötzlich ein Feld voller wunderschöner Rosen vorfand, die sich ihren Weg durch die Schneedecke gebahnt hatten, wurde mir richtig bewusst, wie wichtig mir dieses Lied geworden ist. I don’t see what I see Falling away, falling behind I’m in a game of hide and seek Sun shines outside my mind I wonder if I’m alone Wonder who might be outside I don’t want to raise my eyes All small folded up tight So I count the Roses Yellow red and white Don’t dare use my fingers Many many roses Wrap me up at night Roses wait and roses grow They get their rhythm right I want to know what roses know How they grow smooth and ripe So I count the Roses Yellow red and white Don’t dare use my fingers Many many roses Wrap me up at night Im Februar 2013 ist der japanische Komponist und Spieledesigner Kenji Eno im Alter von 42 Jahren an Herzversagen gestorben. Während in westlichen Gefilden nicht viel von seiner Arbeit bekannt war, hatte er in Japan einen gut ausgeprägten Ruf als Querkopf und Individualist mit unkonventionellen Produktionsmethoden. Seine Produktionsfirma WARP, Inc legte seiner Minispiel-Sammlung Short Warp beispielsweise Kondome bei (diese wurden liebevoll als „Warp Condom“ bezeichnet), während bei Real Sound in der Packung ein Beutel getürkter Cannabis-Samen enthalten war. WARP war leider nur zwischen 1994 und 2000 tätig, die Folgejahre verbrachte Kenji hauptsächlich als Musiker und war mit über 30 Projekten sehr fleißig. Aber er fiel schon mit seinen frühen Arbeiten auf: Für den NES entwickelte er beispielsweise den Plattformer Time Zone, der durch seine simple, aber stilvolle Optik besticht. Wesentlich bizarrer war das Geschicklichkeitsspiel Panic Restaurant, in dem überdimensionale Eistüten und fleischfressende Hamburger abgewehrt werden mussten. Der Drang seine exzentrischen Ideen stärker in die Projekte einzubinden führte schließlich zu der Gründung von WARP. Die Resultate waren alles andere als gewöhnlich: In Totsugeki Karakuri Megadasu!! etwa war ein aufs Äußerste reduziertes 3D-Roboterkampfspiel mit einer LSD-artigen Aufmachung. Oder Oyaji Hunter Mahjong, in dem man das traditionelle Brettspiel gegen einen notgeilen Spanner spielt, um junge Mädchen vor seinen Blicken zu bewahren. Bekanntere Beispiele sind die beiden Horrorspiele Enemy Zero und D. Bei letzterem musste das Myst-artige Spiel innerhalb von zwei Stunden durchgespielt werden, da die Hauptfigur ansonsten starb. Enemy Zero verlangte hingegen volle auditive Konzentration: Der Spieler wurde in einigen Sequenzen von einem unsichtbarem Alien gejagt, dessen Position nur durch genaues Hinhören ausgemacht werden konnte. Zwei Spiele aus WARPs Zeit sind für mich allerdings besonders in Erinnerung geblieben: Real Sound: The Wind’s Regret und D2. Ersteres war ein Audioadventure, wurde ursprünglich für den Saturn veröffentlicht und beinhaltete keinerlei visuelle Information. Das Spiel verließ sich komplett auf Dialoge, Musik und andere Klanghinweise. Es ist eines der wenigen kommerziellen Spiele, die für Blinde entwickelt und vermarktet wurden. Die spätere Dreamcast-Portierung fügte wieder eine ergänzende visuelle Komponente hinzu, in der Fotos von Eno und abstrakte Bilder die Geschichte untermalten. Ich verstehe leider kein japanisch und habe mir beim Spielen von einer Freundin helfen lassen, trotzdem wirkte das Projekt damals schon beeindruckend auf mich. Eine englische Übersetzung hat es leider nie gegeben. Ganz im Gegensatz zu D2. Es erzählt die Geschichte einer Frau namens Laura, die im tiefsten Norden von Kanada mit einem Flugzeug abstürzt und sich dort mit einer der wenigen Überlebenden Kimberly zusammentut, um zu Überleben. Das Sequel zu D ist eines der ungewöhnlichsten Dreamcast-Spiele in der ohnehin schon ungewöhnlichen Bibliothek und in vielerlei Hinsicht der Höhepunkt in Kenji Enos Schaffen. Womöglich Schuld daran ist die lange Entwicklungszeit des Spiels: Ursprünglich sollte es für die M2 Konsole von Panasonic erscheinen, deren Produktion allerdings noch vor der Markteinführung gestoppt wurde. Für die Dreamcast-Version wurde so gut wie alles neu konzipiert. Als der Titel endlich im Jahre 1999 veröffentlicht wurde, ließ es Journalisten, als auch Spieler eher ratlos zurück: D2 war und ist ein ambitionierter Mix aus Survival Horror, Rollenspiel, interaktivem Film, Jagdsimulation und Adventure. Oftmals wechselten die Stimmungen im Stakkato: Manche Szenen führten minutenlang eine melancholische, sanfte Atmosphäre an, während urplötzlich von einer Sekunde auf die andere psychosexueller Horror auf den Rezipienten einprasselte. In manchen Szenen war D2 wie Carpenter, in anderen wie Shyamalan, und dann auf einmal Cronenberg. Aber es passte zusammen. Es sieht wirklich nicht danach aus, aber es passt zusammen. Ich habe Kenji Eno nie getroffen, man möge mir daher verzeihen wenn ich die Vermutung hege, D2 spiegelt am besten den künstlerischen Geist dieses herausragenden Designers wider. Ebenso wie er passte das Spiel nirgends in die Landschaft des Marktes hinein, aber beiden war dies auch völlig egal. D2 wollte nur D2 sein, ein einzigartiges Erlebnis. Und Kenji Eno wollte nur ohne Ablenkung seine eigenen Ideen verwirklichen, egal wie abstrus sie auf dem Papier oder im Resultat wirkten. Davon abgesehen, dass 42 ein viel zu junges Alter zum Sterben ist, ist zudem noch bedauernswert, dass Eno nie die Chance hatte in die heutige Indie-Szene einzusteigen. Mit seinem verrückten Ideen, seinem Mut sie zu realisieren und seiner Kraft gegen Widerstand von Außen zu bestehen, hätte er wunderbar in die heutige Spiele-Landschaft der unabhängigen Rebellen hineingepasst. So kommt mir „Counting the roses“ vom Gitarristen Arto Lindsay in den Sinn, sozusagen das prägende Theme von D2. Im Spiel repräsentiert es Hoffnung inmitten der eisigen Kälte des nördlichen Kanadas. Für mich ist es auch der Wunsch, dass sich die Spielergemeinde noch lange an Kenji Eno erinnern wird.