Als Schüler bin ich damals nach Unterrichtsschluss sehr oft in der Videothek gewesen. Während sich in meinem Hinterkopf Gedanken um Hausaufgaben für Mittel- und Oberstufe kreisten, war der sich bereits in der Freizeit wähnende Teil meiner Aufmerksamkeit auf die langen, reizvollen Regale gerichtet. Mein Bruder besaß die originale, graue Playstation und lieh sie mir regelmäßig aus. Fachzeitschriften habe ich dabei so gut wie keine gelesen, das Internet war nur über langsame Modems nutzbar – von guten Informationsquellen zu Spielen hatte ich damals also nicht den leisesten Hauch einer Ahnung. Der Leistungsdruck in der Schule und zahlreiche andere Ablenkungen, wie Parties oder Mädchen, waren zu der Zeit am Ende doch dominanter, als ich zu dieser Phase wahrgenommen hatte. Die Regale der Videotheken, die über auch für nicht-volljährige zugängliche Bereiche aufwiesen, waren für mich also so etwas wie ein Süßwaren-Laden, bei dem ich nicht im entferntesten wusste, welcher Geschmack mich in den einzelnen Fächern voller bunter Kreationen erwartete. Aber die Farben sprangen mich an, die unterschiedlichen Formen reizten mich, die seltsamen Namen stimulierten meine Fantasie. Die Cover der Playstation-Spiele betrachtete ich also genau. Immer wieder nahm ich vereinzelte Titel in die Hand; wägte ab, ob ich nun tatsächlich das wertvolle Taschengeld für die Ausleihe verwerten sollte. Geld und Zeit waren schon damals rar, es musste also eine gute Investition sein. Doch ich stand vor den Regalen und wollte ewig Zeit haben. Alles ausprobieren, in jedes Spiel zumindest einmal reinschnuppern. Vor mir standen endlich viele Welten und jede von ihnen versprach mir eine weitere Ablenkung von Noten, Klausuren und der lästigen Hausarbeit, die mir meine Eltern auftrugen. Wann immer ich mir ein Spiel auslieh, so kündigte ich meine Stunden damit schon lange vorher bei meiner Familie an. Ich werde an diesem und jenem Samstag Nachmittag bitte nichts anderes tun, als mich diesem einem Spiel widmen. Ja, ich habe bis dahin alle Hausaufgaben gemacht. Ja, ich habe bis dahin eingekauft. Und ja, mein Zimmer ist bis dahin aufgeräumt. Durchgezockte Nächte waren durch die Elternaufsicht undenkbar, umso kostbarer erschienen mir diese wenigen Stunden. Selbstverständlich blieben mir viele Spiele aus dem Videotheken-Regal verborgen. Auch aus finanzieller Sicht wäre es einfach nicht möglich gewesen mehr als zwei oder drei Spiele im Monat auszuprobieren, gar zu kaufen. Videospiele waren auch damals teuer. Aber die Cover und Titel brannten sich in mein Gedächtnis ein. Dann gab es einen Zeitsprung. Alles wanderte dabei in eine unbeachtete Ecke, ganz weit hinten in meinem Gehirn. Das Internet wurde zugänglicher, der Gebrauchtmarkt für Spiele dadurch beflügelt – und eines Tages, weit nachdem mir der Einfall kam gute Spiele zu sammeln, wurde mir bewusst, dass all diese Exemplare aus dem Videotheken-Regal greifbarer waren als je zuvor. Es begann eine Recherche nach Spielen, die ich schon immer einmal ausprobieren wollte, wo mein Interesse auch über Jahre hinweg nicht erloschen war. Spiele, bei denen ich mich immer gefragt hatte, wie die Screenshots auf der Rückseite wohl in Bewegung ausgesehen hätten. Wie würde es sich anfühlen diesen Samurai bei Ronin Blade selbst zu steuern? Ist Skullmonkeys tatsächlich so bizarr und verrückt, wie ich es mir immer ausgemalt hatte? Sind die heißen Protagonisten von Fear Effect auch im Spiel so Badass wie auf dem Cover? Und wie spielte sich dieses Sentinent, unter dem ich mir nie etwas konkretes vorstellen konnte? Einstellige Summen für den Gebrauchtpreis sind mir es Wert gewesen meine Neugier zu befriedigen. Diese Phase der Neuentdeckung alter PS1-Spiele habe ich letztes Jahr durchlebt, und sie war gleichermaßen geprägt von Überraschungen, als auch Enttäuschungen. Viele Spiele gingen nach einer Anspielsession daheim auch umgehend wieder in den Gebrauchthandel. Doch obwohl ich Gewissheit gegen Vermutung getauscht hatte, blieb während des Spielens eine gewisse Romantik. Ein Teil von mir beschäftigte sich mit dem Geschehen auf dem Bildschirm, ein anderer von mir spaltete sich aber zur exakt gleichen Zeit ab und reiste zurück vor die Regale der Videothek. Und plötzlich wusste ich wieder, was am gleichen Tag davor oder danach geschah. Ich wusste wieder, dass ich keine Lust darauf hatte, schon wieder das Efeu an unserem Haus zu schneiden, und deshalb auf dem Heimweg trödelte, als ich endlich die Videothek verließ. Ich wusste wieder, dass ich mich am Abend nicht traute mit meiner Partnerin in der Tanzschule über Spiele zu sprechen, weil es als zu nerdig empfand und wir uns stattdessen nur verlegen anstarrten. Ich wusste wieder, dass mein Bruder sich seine Playstation zurückholen wollte, mich aber doch noch eine Stunde spielen lies, als er erkannte, dass ich gerade so viel Spaß damit hatte. Ich wusste wieder, wie ich an der Bushaltestelle freudestrahlend neben einer schönen Schulfreundin saß – mit einem nachträglich zum Geburtstag gebackenen Käsekuchen für mich auf ihrem Schoß – und ich den Nerd in ihr entdeckte, als wir über die gerade ausgeliehenen Filme und dieses eine PS1-Spiel in meiner Hand fachsimpelten. Ich wusste plötzlich wieder Dinge, die ich längst vergessen hatte. Kleine Details, die meine Erinnerung im Netz der Assoziationen wieder hervorrief. So schaue ich heute also manchmal ins Regal und lese die Titel auf den Rücken der Verpackungen. Und manchmal schießt dabei ein Bild für eine Millisekunde durch meine Gedankenwelt, begleitet von einem Blitzlicht wie bei einer Polaroid-Aufnahme. Ein Bild wie aus einem anderem Leben. Aber es hinterlässt ein warmes Gefühl im Bauch.